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Wo ist Hundi?

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Obwohl mein Bruder und ich dieselben familiären Kämpfe fochten, dieselben häuslichen Dramen erlebten, hatten wir in der Kindheit zumindest in meiner Erinnerung nur wenig miteinander zu tun. Wir spielten nicht oft zusammen. Wir trösteten uns nicht gegenseitig, wenn in unserem Haus die Minen hochgingen. Unbewusst entwickelten wir ähnliche Strategien, um das Leben mit unseren Eltern zu navigieren, aber wir tauschten uns erst später darüber aus. Vor der Pubertät hatten wir wenige gemeinsame Interessen.

In den erinnert wenigen Momenten, in denen wir zusammenspielten, kamen häufig Kuscheltiere zum Einsatz. Darauf konnten wir uns verständigen. Unser Lieblingsteam waren zwei Hunde, Toffi und Hundi.

Toffi war eine etwas größere braune Hundedame, die mit viel Fantasie einem Terrier nachempfunden war. Warum uns für Hundi kein besserer Name einfiel, weiß ich nicht mehr. (heute würde sich Hundi problemlos zwischen Pingi, Wali, Tinti, Okti, Möwi und Haii im Bett meines Kindes einreihen).

Hundi war klein, grau und hatte eine weiße Schnauze. Er hatte seine vier kurzen Beine von sich gestreckt und sah ziemlich entspannt aus. Toffi gehörte mir, Hundi meinem Bruder, und, ohne dass wir uns groß absprechen mussten, führten die beiden eine glückliche Beziehung in einer heilen Welt. Vielleicht war Toffi etwas dominanter, sie war ja größer und wurde von mir gespielt. Vielleicht war Hundi etwas zurückhaltender und niedlicher, so wie mein Bruder.

Wenn wir mit ihnen spielten, schien unsere Welt auch heil. Die häuslichen Minen gingen nicht hoch, der Alltag war unspektakulär. Toffi und Hundi liebten sich. Sie stritten sich nicht, niemand weinte, niemand zog aus oder redete von Scheidung.

Als wir mit unseren Eltern und Toffi und Hundi in einem Park spazieren gingen, geschah es: Eine dichte Schneedecke lag auf dem Weg und wir tobten wahrscheinlich den baumgesäumten Weg entlang, wobei ich das nur vermute, denn so genau erinnern kann ich mich nicht mehr. Und ich würde mich auch nicht mehr an den Spaziergang erinnern, wäre nicht etwas Schreckliches passiert.

Auf einmal war Hundi weg.

Wir hatten ihn beim Spielen und Toben irgendwo verloren. Wir fingen an zu suchen, rannten hektisch den Weg zurück, unsere Blicke auf den Weg und die Schneeverwehungen daneben gerichtet. Wir wurden immer verzweifelter, unsere Eltern immer genervter. Es war kalt, es wurde dunkel, der kleine grauweiße Hund blieb verschwunden. Wir weinten, unsere Eltern versuchten, uns zu trösten. Wir weinten noch mehr, konnten es nicht fassen, dass Hundi weg war. Wo war er bloß? Er konnte doch nicht einfach so verschwinden.

Plötzlich war Toffi Witwe geworden. Ohne Hundi würde nie wieder jemand mit ihr spielen. Aber das wussten wir damals noch nicht. Wir hofften noch immer, ihn zu finden. Irgendwo musste er doch sein! Die Suche war erst zu Ende, als unsere Eltern uns aus dem Park schleppten. Dabei waren wir untröstlich und schlugen das Angebot ab, einen neuen Kuschelhund zu kaufen.

Hundi war eines der wenigen Spielzeuge, mit denen mein Bruder und ich gemeinsam spielten. Eine große Bedeutung maßen wir ihm nicht bei. Nach dem Verlust jedoch wurde er groß und wichtig. Wenn wir Hundi verlieren konnten, konnten wir alles verlieren. Alles konnte plötzlich verschwinden. Unsere Eltern, einer von uns, unser fragiles Familienkonstrukt. Doch wenn wir Hundi wiederfänden, würde alles gut.

Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich suchte noch Jahre nach einem Kuscheltier, das so aussieht wie Hundi. Ich wollte meinen Bruder damit überraschen. Doch einen echten Hundi fand ich nie wieder. Und noch weniger gerne gebe ich zu: Wenn ich heute einen fände, würde ich ihn kaufen. Und das, obwohl es Toffi schon lange nicht mehr gibt. Obwohl ich kaum noch Minen umgehen, keine heile Welt mehr herbeifantasieren muss. Und obwohl ich nicht mehr genau weiß, wie Hundi eigentlich aussah.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch nicht zugeben, wie viele Stunden ich im Internet verbracht habe, um ein ganz bestimmtes Kuscheltier für mein Kind zu finden.

Erwachsen werden ist gar nicht so einfach, vor allem, wenn man nie wirklich ein Kind war.

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