Wenn ich von meinen Eltern zurück in meine Stadt fahre, verändert sich die Gegend vor den Zugfenstern. Von üppig grün, dicht und hässlich besiedelt zu karger, leerer und anders hässlich besiedelt reise ich durch Deutschlands mehr oder weniger blühende Landschaften. Auf dem Weg von Mischwäldern zu Monokulturen, von (noch) funktionierenden Fabriken über stillgelegte Werke und Bahnhöfe zu hypermodernen Lagerhäusern in menschenleeren Industriegebieten verändern sich auch bei mir Perspektive und Stimmung.
Im Zug sehe ich die Gesichter meiner Eltern, die auf einmal einen Schub ins Alter gemacht zu haben scheinen. Ich sehe meine einst flinke Mutter, die langsam die Haustür schließt, meinen einst großen Vater, der mir seinen gekrümmten Rücken zuwendet, kurz bevor ich die nervige Treppenrampe zur Bahnhofsbaustelle hinunterrempele und in den Zug steige, der mich von der Vergangenheit in die Gegenwart bringt.
Während sich vor meinen Augen die Landschaft verändert, entsteht hinter meinen Augen mehr Klarheit. Ich wusste schon als Kind, dass ich Abstand von meiner Herkunftsfamilie brauche. Aber was das wirklich bedeutet, begriff ich erst auf diesen Zugreisen. Ich kann mir selbst nicht entfliehen, nicht meiner Vergangenheit und den verschütteten Erinnerungen, nicht den so häufig entwurzelten familiären Wurzeln. Nach fast 40 Jahren in der „Ferne“, die zur „Heimat“ geworden ist, reise ich nun regelmäßig zurück an einen Ort, der mir immer fremd geblieben ist.
Am Anfang dieses Jahres begann die Phase der regelmäßigen Deutschlandreisen. Manchmal war ich schnell da, manchmal dauerte es lange, je nachdem, welches Abenteuer die Deutsche Bahn für uns Passagiere in petto hatte. Manchmal rollten wir rapide an saisonal bewachsenen Feldern und begradigten Flüssen vorbei, manchmal standen wir stundenlang im Nichts und warteten auf die Bundespolizei, die Feuerwehr, den Notarzt oder darauf, dass der vorausfahrende Zug die Gleise freigab.
Egal, wie lange ich auf deutschen Gleisen rollte oder stand – immer wieder fand ich mich in einer Welt, in der ich mich entweder von mir selbst befreien musste oder mich selbst finden konnte. Und diese Welt begann schon auf meinem Platz im Zug, wo ich, oft im Funkloch und damit befreit von Kommunikations- und Arbeitszwängen, in Ruhe an Texten wie diesem hier arbeiten konnte.
Alter, Krankheit, Vergänglichkeit, das ist der Dreiklang, der gerade so viele meiner Freunde zwischen Orten hin- und herreisen lässt. Zwischen alltäglichem Mikromanagement und Vergangenheitsbewältigung, zwischen Arbeit und Abschied, oszillierend zwischen verschiedenen Identitäten bewegen wir uns durchs Land und schreiben uns gegenseitig Nachrichten, in denen wir den anderen viel Kraft für ihre Reise wünschen.
Ab und an kommt die Nachricht, dass eine Reise zu Ende gegangen ist. Ein Mensch verabschiedet wurde. Die Freundin, der Freund kommt mit vollem Herz nach Hause und beginnt den langen, zyklischen Trauerprozess, in dem so viele widersprüchlichen Gefühle mitschwingen: die krasse Unfassbarkeit des Verlusts, der rohe Schmerz, komplexe Familientraumata und Schuldgefühle, aber auch Erleichterung, Dankbarkeit und tiefe Verbundenheit mit dem Leben.
Meine Deutschlandreisen in diesem Jahr haben mich fürs Erste wieder zurück von dieser gefürchteten Grenze gebracht. Jetzt lauert die Gefahr am Horizont und wir atmen durch, bis sich der Weg erneut gabelt. Die regelmäßigen Reisen quer durchs Land haben aufgehört, aber sie wirken nach. Denn was sie mir auch gebracht haben, war nicht nur die regelmäßige Beschäftigung mit meiner Vergangenheit und Gegenwart. Sondern auch mit Angst. Schmerz. Verlust. Krankheit. Tod. Die ganzen wunderbaren Themen, die auch ein alter Gruftie wie ich bis jetzt immer wunderbar ausklammern konnte.
Bald werde ich, so ist es zumindest geplant, meine letzte Deutschlandreise dieses Jahr machen. Ich werde nicht allein reisen und sicherlich mehr in der Gegenwart als in der Vergangenheit sein. Einer von uns wird andauernd nach Weihnachtsgeschenken und Hotspot fragen. Mindestens einer von uns wird einschlafen.
Und einer von uns wird die Weihnachtsbäume zählen. Die glitzernden Hoffnungsträger in den winterlich kargen Landschaften, in den kleinen Siedlungen und größeren Städten, in den trostlosen Industriegebieten und überfüllten Bahnhöfen, vor alleinstehenden Häusern an dunklen Waldrändern, zwischen toten Feldern und begradigten Flüssen.
Zwischen heute und damals, zwischen hier und dort, zwischen Herbst und Winter stehen diese immergrünen, überschmückten Tannen, eine Brücke ins Neue Jahr, in die Zukunft. Ich habe keine Ahnung, was auf mich und uns zukommt, wohin die Reise geht.
Ich weiß nur, die Reise geht weiter.

Einmal in die Weihnachtsgalaxie und wieder zurück. Frohes restliches Jahr.