Zum Inhalt springen

Obama und das Eichhörnchen

  • von

Kürzlich habe ich in einem Podcast einen kurzen Einspieler aus einer Rede von Barack Obama gehört. Ich war gerade im Supermarkt und griff nach den Orangen, als ich seine Stimme für ein, zwei Minuten hörte. Plötzlich wurde ich ganz emotional. Und begriff erst nicht, warum.

Kurz davor wurden Vance und Trump eingespielt. Dabei hätten mir eigentlich die Tränen kommen sollen. Stattdessen bekam ich Lust auf Orangen. Und dann kam Obama.

Ich mochte Obama immer auf eine oberflächliche Art. Ich fand ihn sympathisch und humorvoll, er stand für Dinge, die ich, ohne viel darüber nachzudenken, gut fand, wie z. B. „Obama Care“ (Patient Protection and Affordable Care Act), er war nach den langen schweren Bush-Jahren ein breath of fresh air, er stand für Aussöhnung und mehr soziale Gerechtigkeit, aber ich war kein Fan im eigentlichen Sinne. Ich steckte nicht tief im Thema. Ich freute mich für meine US-amerikanischen Freunde, darüber, dass nicht schon wieder ein offensichtliches Arschloch zum Präsidenten gewählt wurde, aber die Stilisierung zu einer Jesus-ähnlichen Retterfigur bei seiner Wahl stieß mir auf. Ich bin halt eine zynische europäische Bitch.

Und als solche unterdrückte ich die Tränen, hielt den Podcast an, konzentrierte mich aufs Einkaufen (Tomaten statt Orangen) und ging nach Hause. Ich versuchte, nicht sentimental zu werden. Einer Zeit nachzuhängen, die unwiderruflich vorbei ist. Ich schaute nach vorne. Und sah ein Eichhörnchen. Ein kleines, zierliches, rotes Eichhörnchen, wie es sie zuhauf gibt in Berlin.

Wo es sie noch gibt: Denn die kleinen, süßen Eurasischen Eichhörnchen (Sciurus vulgaris) sollen angeblich bedroht sein von den größeren Grauhörnchen, die aus Nordamerika nach Europa eingewandert sind und sich nun mutmaßlich über Großbritannien und Italien langsam nach Osten und Norden ausbreiten. Noch sollen die großen Grauen nicht in größerer Menge in Deutschland angekommen sein. Da, wo sie auftauchten, so eine Theorie, würden die europäischen, im Sommer oft rothaarigen, Hörnchen verschwinden, vielleicht wegen eines Virus, den die Grauhörnchen übertragen, vielleicht weil die Grauen anpassungsfähiger sind.

Der „Hörnchenkrieg“ ist eine schreckliche Allegorie, aber glücklicherweise nur eine Kombination von alternative facts, wie ich nach kurzer Recherche herausgefunden habe. Und darum geht es mir auch gar nicht. Sondern darum, dass ich viel zu viele Dinge für selbstverständlich genommen habe.

Dinge wie Demokratie und Menschenrechte. Oder dass Nazis nie wieder in Deutschland Fuß fassen würden. Oder dass es eine Konsensus-Realität gäbe, einen kleinsten Nenner in der Gesellschaft, auf den sich alle irgendwie einigen können. Oder dass ich ein rotes Eichhörnchen eine Minute beobachten kann, ohne dass irgendwo eine Rakete einschlägt, eine Drohne rumfliegt oder jemand das Hörnchen abschießt, um es aufzuessen.

Viele dieser früheren Selbstverständlichkeiten scheinen zwischen Obamas und Trumps zweiten Amtszeiten, zwischen den Zehnern und Zwanzigern nicht mehr selbstverständlich zu sein. Auch wenn sich hier noch niemand ein Eichhörnchen brät und die Raketen Hunderte von Kilometern entfernt einschlagen, sind wir inzwischen, nach dem kollektiven Rutsch durch die Corona-Pforte, in einer Dystopie gelandet, die möglicherweise direkt auf die eine (Klima) oder andere (KI) Form von Singularität zurast. Das sind die neuen Selbstverständlichkeiten.

Wenn ich in diesen Tagen in meine Grübeleien vertieft durch die Straßen stapfe, Kopfhörer auf den Ohren, der Blick von den Obdachlosen und Betäubten abgewandt, die Empathie runtergedimmt, die emotionalen Kapazitäten erschöpft, und auf ein Eichhörnchen treffe, ein rotes oder nicht so rotes, wache ich kurz auf. Wir schauen uns an, das Hörnchen und ich, bevor es den Baum hochhastet, und ich denke an die Vergänglichkeit einerseits, aber auch an das, was leider nicht vergänglich genug ist und jetzt wieder in anderer Form zurückkehrt, denke an die verlorenen Utopien, die verlockenden Dystopien.

Das alles verdichtete sich für einen Moment im Anblick des kleinen Tiers mit den Pinselohren. Selbstverständlich kreuzte es meinen Weg. Selbstverständlich lächelte ich ihn an, kleiner Stadtbewohner, Passagier auf derselben Arche Noah wie ich. Als es mich dann aus sicherer Entfernung aus einem Baum anschaute, große schwarze Augen, zuckender, buschiger Schwanz, war mein Alltag für einen Augenblick unterbrochen und zwei Parallelwelten, die des Eichhörnchens und meine, überschnitten sich kurz.

Ich freute mich, machte ein Hörnchenfoto und stapfte zurück in meine Welt. Sentimentalität ist keine Lösung. Aber kurz mal innehalten und in die Augen eines desinteressierten Tieres zu blicken, holt mich für einen Moment heraus aus der Dystopie und zurück in die Gegenwart. Und manchmal reicht das schon.

Hier ein paar Stimmungsaufheller aus dem herbstlichen Berlin:

Das obere Hörnchen wurde letztes Jahr im Wedding gesichtet, die beiden unteren Hörnchen kürzlich in Mitte. Möglicherweise sind die beiden Mitte-Hörnchen dasselbe Hörnchen, das mich zum Text inspirierte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert