Ich sitze im Zug, schaue auf sommerlich gelbe Felder in Niedersachsen und beiße in einen Apfel. Meine Mutter hat mir den Apfel für die Fahrt nach Hause mitgegeben. Aufgedrängt eigentlich, mit den Worten, dass es der letzte Apfel ist, den meine Eltern im Haus haben, was mich verwundert, weil meine Eltern eigentlich von allem immer viel zu viel dahaben. Und natürlich möchte sie mir noch mehr mitgeben, Birnen, Erd-, Him- und Blaubeeren, Bananen, Wasser-, Gala- und Honigmelone (letztere ein Mitbringsel direkt aus Sizilien), Pfirsiche, Nektarinen und Aprikosen.
Überall im Haus meiner Eltern stehen Schüsseln aus Porzellan und Steingut, bunte Schüsseln voller frischer Früchte. Meine Eltern sind nicht nur berry-rich, auch der Kühlschrank ist gut gefüllt mit Ziegenkäse und Salami aus Italien (bestellt im Internet), Bergkäse aus dem Allgäu und Mozzarella aus dem Bioladen, Roséwein aus Österreich, Kirschen und Marmelade vom Markt.
Aber es gibt nur noch einen Apfel im Haus. Und den gibt mir meine Mutter. Während ich ihn esse, muss ich fast heulen. Ich denke an den Tag zuvor, als wir wie früher „in der Stadt shoppen“ waren.
„In der Stadt shoppen“ bedeutet mit dem Bus ein paar Stationen in „den Kessel“ fahren und dort Sachen erledigen, wie Kontoausdrucke und Arztrezepte holen, zuvor getätigte Einkäufe umtauschen, lunchen und Kaffeetrinken. Es bedeutet auch, den vier magischen Buchstaben (SALE) in die oberen Geschosse von vormals schicken Läden folgen, die hochpreisige Markenprodukte in so genannten „Pop-up-Stores“ verramschen. Und nichts kaufen, weil man ja irgendwie eh alles hat.
Heute hat „in der Stadt shoppen“ eine andere Funktion als früher: Es knüpft nostalgisch an Zeiten an, als a) Shoppen generell noch Spaß machte und b) eine generationenübergreifende konfliktarme Familienbeschäftigung war, c) Geschenke gemacht werden konnten, über die man sich wirklich freute, d) Innenstädte noch halbwegs spannend und e) alle gesund waren.
Während ich den letzten Apfel esse, denke ich daran, wie unfassbar es ist, dass meine Mutter einen Tag nach ihrer fünften Runde Chemotherapie shoppen gehen kann. Dass wir in einem Café sitzen und ich ein Foto von ihr mache, auf dem sie, schmal und haarlos unter einer gehäkelten Mütze wie ein junges Mädchen in die Kamera strahlt. Dass sie mit gutem Appetit isst und stundenlang durch Pop-up Stores tigern kann, mit demselben liebevoll-kritischen Blick auf die lieblos aufgehängten Produkte, den sie immer hatte. Und dass sie, wenn sie etwas kauft, es garantiert wieder umtauschen wird, so wie sie es immer tut.
Ich knabbere an dem Apfel und denke daran, wie egal es ist, was wir tun, so lange wir es tun können. Ich habe im vergangenen halben Jahr ihre Hand gehalten, wenn sie nach Luft ringend eingedöst ist oder vor Schmerzen aufgestöhnt hat. Ich habe sie durch labyrinthartige Krankenhausgänge zum nächsten CT, MRT oder Röntgen begleitet. Ich habe auf Ärztinnen und Ärzte gewartet, Listen mit Fragen geschrieben und abgefragt, Medikamente recherchiert, frische Brezeln geholt und auf Bänken vor Untersuchungszimmern gewartet.
Ich habe mit ihr und meinem Vater Tatort, Heute Show und Talkshows mit schlimmen Politikern geschaut, etwas, das ich früher freiwillig nie getan hätte. Jetzt sitze ich neben ihr und spüre ihren warmen Körper. Sie atmet, ihr Herz schlägt, sie hält mich im Arm und ich genieße jeden Moment.
Warum müssen wir immer erst an eine Grenze kommen, um im Moment anzukommen?
