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Wie Heroin

Er sitzt in seinem Zimmer auf dem Boden, der Rücken rund, die Haare fallen ihm ins Gesicht, die Hände schieben und werfen Lego-Figuren umher. Er spricht ohne Pause, ein durchgehender Monolog zu Kampfstrategien, Beschimpfungen der gegnerischen Armee („die Bösen“ oder auch „die ehrenlosen Hurensöhne“) und Befindlichkeiten der eigenen Armee („die Lieben“, manchmal aber auch „das Imperium“ oder „die Todesser“).

Wenn er eine Sache von mir gelernt hat – und es ist vielleicht nur diese eine Sache – dann weiß er, dass Gut und Böse relativ sind. Und dass „die Bösen“ oft die Interessanteren sind (mit Ausnahme der Malfoys). Außerdem macht es ihm wahnsinnig Spaß, Sachen zu zerstören und durch die Gegend zu werfen.

Ich höre sein Lachen, nicht mehr ganz so hysterisch wie noch vor ein paar Jahren, und dann sein Aufschreien, weil Darth Vader auf dem Schrank gelandet ist. Und dann sein Rufen, „Mama, es ist was Schreckliches passiert, du musst mir helfen.“ Und mein genervtes, „Selber schuld, wenn du alles rumwirfst. Kümmere du dich drum.“ Und dann das Geräusch eines wackeligen alten Drehstuhls, der vor den Schrank geschoben wird, das Knacken von Lego-Teilen unter den Metallbeinen des Stuhls.

Ich halte den Atem an und sage mir immer wieder, er hat sich nur dreimal im Leben was gebrochen, alles geht gut, bis er wieder mit oder ohne Darth Vader („Mensch, Mama, warum hilfst du mir denn nicht?“) von diesem Stuhl steigt. Dann höre ich die Schläge auf den Schrank, die wütenden Schreie, das langgezogene „Maaamaaaaa!“, Spielsachen und Bücher, die mit aller Wucht durch das Zimmer geschleudert werden und alle guten Vorsätze, heute etwas besser gelaunt, zugewandter und hilfsbereiter zu sein, schmelzen angesichts der Aggressivität im Kinderzimmer, bis das Kind herausrennt, mich anrempelt und sich nochmals beschwert, zwei Zentimeter vor meinem Gesicht rumfuchtelt, mich beschimpft und mir schließlich den Mittelfinger zeigt.

Später, nach zahlreichen verbalen und geschriebenen Entschuldigungen („liebe MaMa, es tut mir leit, bite fazei mir“) steige ich auf den wackeligen Drehstuhl, der einst einem lieben, inzwischen verstorbenen Freund gehörte, an den ich immer denken muss, wenn ich diesen Stuhl sehe, ich steige auf diesen kleinen Holzdrehstuhl, dänisches Design aus den 70ern und halte mich zitternd an der Oberkante des Schranks fest, ich habe mir schon mehr als dreimal  was gebrochen, und greife nach Darth Vader und den fünf anderen Lego-Figuren, Hotwheel-Autos und Gummidinos, die sich auf dem Schrank eingefunden haben, im Rahmen von „Kämpfen“, „Ausflügen“ oder Wutausbrüchen.

Danach ist die Stimmung gut, das Kind beendet den Kampf und verkündet, jetzt was zu lesen, weil er vorhat, eine Leseratte zu werden („Mama, was ist eine Leseratte?“), nach spätestens zwei Minuten legt er das Buch weg („Genug gelesen, was machen wir jetzt?“), worauf ich antworte, dass ich noch arbeiten, kochen, aufräumen etc. muss und dass er gerne in der Zwischenzeit weiterlesen könne, schließlich hat er sich in der Woche davor drei neue Bücher geholt. Worauf er antwortet, er habe nicht genug Bücher und könne er mal kurz im Internet schauen, was es sonst noch so gibt?

Fünf Auseinandersetzungen später essen wir und schaffen es nicht, uns von den Themen Minecraft oder „coole Ballerspiele“ zu entfernen, trotz meiner regelmäßigen Versuche, das Thema zu wechseln, Versuche, die vor allem daran scheitern, weil das Kind findet, dass wir es zu oft unterbrechen, ihm nicht zuhören und es generell nicht ernst nehmen, was ich für eine reine Projektion halte, bis das Kind nach zu wenig Essen behauptet satt zu sein und nach Nachtisch verlangt, von dem es dann, wenn es nicht von uns abgehalten wird (die nächste Auseinandersetzung) mindestens zwei Portionen essen wird, während mein Gefährte und ich uns anschauen und uns gegenseitig sagen, wir dürfen das Zeug nicht mehr kaufen, warum ist der ganze süße Scheiß überhaupt da (er ist da, weil einer von uns, meistens ich, ihn einkauft), während das Kind, das den ganzen Tag fast nichts gegessen hat, Unmengen von Zucker in sich hineinschaufelt.

Manchmal ist das Kind danach so gut gelaunt, dass es uns freiwillig ein paar Sekunden lang etwas über die Schule erzählt, es wirft uns ein paar Bröckchen zu, die wir gierig inhalieren. Wenn wir nachfragen, weil wir angefixt sind oder etwas nicht verstanden haben, verschließt sich sein Gesicht und er antwortet: „Weiß nicht. Habe ich vergessen. Ach, das interessiert doch jetzt niemand.“

Auf die Frage, was es heute in der Schule zu essen gab, kommen häufig Antworten wie: „Weiß ich nicht mehr, ist doch jetzt nicht so wichtig.“ Oder: „Ich war nicht da, die Schlange war zu lang.“ Oder: „Ich habe vergessen, hinzugehen.“ Oder: „Ich war zu spät dort und die haben mir nichts mehr gegeben.“ Oder: „Es gab was total Ekliges, irgendwas mit Käse“, was dann mit der entsprechenden Mimik und Gestik inklusive Kotzgeräuschen unterstrichen wird.

Ich antworte dann, iss jetzt noch was, damit du nachher, wenn du ins Bett gehst, keinen Hunger mehr hast. Was nie passiert. Und spätestens um neun, wenn das Kind schon längst im Bett liegen sollte, kommen regelmäßig Sätze wie „Ich habe Hunger. Schneidest du mir einen Apfel?“ oder: „Kriege ich noch einen heißen Kakao mit Sahne?“ oder: „Machst du mir noch ein paar Toastbrote?“ Wobei das gelogen ist. Die Sätze klingen eher so: „ Hunger! Mach mir einen Apfel.“  Oder: „Ich will noch ein Toast.“ Oder, wenn es schlecht läuft: „Kann ich Chips?“

Und weil das Kind untergewichtig ist und in der Schule nichts isst, stehe ich auf, voller Selbsthass, und mache ihm den Apfel und die Toastbrote, während ich hilflos aus der Küche rufe „Vorgelesen wird jetzt nichts mehr, zu spät, warum muss das immer so laufen …“ etc.

Worauf das Kind, gutgelaunt zu dieser späten Stunde, antwortet: „Ach Menno. Kraulst du mich wenigstens noch?“ Und dann, kurz vor dem Einschlafen, die Augen schon halb zu, aber immer noch unruhig mit den Beinen zappelnd, „Hast du mich lieb, Mama?“

Ich sehe ihn an, die blonden Strähnen im Gesicht und auf dem Kopfkissen, beuge mich über ihn, um ihn zu küssen, die Haarenden sind nass und hart, „knusprig“, wie er es nennt, weil er darauf herumkaut, und ich zucke zurück. Er lacht. Ich sage ihm, dass ich ihn natürlich liebhabe, dass er das Liebste in meinem Leben ist und küsse ihn auf seine weichen Lippen (Küsse auf Wange oder Stirn sind für ihn keine „richtigen“ Küsse). Dann dreht er sich um, Daumen im Mund, sein abgenagtes Lieblingskuscheltier an den Lippen, und schließt die Augen. Mit dem Daumen im Mund murmelt er undeutlich, „Kraulen, Mama“ und ich fahre mit der Hand unter sein Schlafanzugoberteil, den langen dünnen Rücken hoch und runter, hoch in den Nacken, wo sich sein Haar kräuselt und nicht knusprig ist und höre seine gemurmelten Anweisungen „runter, mehr zur anderen Seite, wieder hoch, genau da“, in der Hoffnung, dass er einschläft, was er während des Kraulens nie tut.

Ein Tag voller Streit liegt hinter uns, ein Tag voller Reibung, Widerstand, Wut, Kontrollversuche, Machtspielchen, Hilflosigkeit. Ein Tag wie jeder andere. Ich schaue ihn an, erschöpft und des Streitens müde und gleichzeitig so glücklich, dass er bei uns ist. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Kinder wie Heroin wirken. Man schleppt sich durch den Alltag und denkt, es kann nicht mehr schlimmer werden, bis ein kleiner magischer Moment die Endorphine im Gehirn aktiviert. Auf einmal scheint all der Ärger „sinnhaft“ zu sein, weil er mich aus mir selbst herausholt und mich mit etwas „Größerem“ (der Gesellschaft, der Zukunft, der Biologie oder Evolution) verbindet. Was natürlich neben der offensichtlichen Binsenweisheit auch eine Lüge ist, die man sich selbst erzählt, um der aktuellen Lebenssituation etwas abzugewinnen. Und wie jeder Heroinabhängige bestätigen kann: Wenn die Endorphine loslegen, ist alles andere unwichtig.

Wenn meine Tage zwischen Stress, Panik und Hochgefühl pendeln, schätze ich sie wegen der „transzendenten Erfahrung“ (für mich immer ein Argument), der sozialen Komponente, vor allem den verbindenden Erlebnissen (mit dem Gefährten und anderen gestressten Eltern) und dem täglichen Druck, die Komfortzone zu verlassen, sei es bei Playdates, schulischen Verpflichtungen, Kinderarztbesuchen oder digitalen Medien, der Druck, der mich in meinem Alter immer noch verunsichert durch die Gegend jagt. Ohne Kind hätte ich es mir in meinem Midlife wahrscheinlich gemütlich gemacht, mehr Kultur, mehr Sport, mehr Reisen, mehr Schlaf, mehr Beschäftigung mit mir selbst, meiner körperlichen und mentalen Gesundheit, meiner Ernährung, meiner Sexualität.

Jetzt hake ich das alles nebenher im Schnelldurchlauf ab und manches fällt hinten runter. Aber egal: Für dieses High muss ich nicht in den Görli.

2 Gedanken zu „Wie Heroin“

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