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Zwischen Neuroplastizität und Demenz

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Wie viele in meiner Generation mache ich mir Sorgen um mein Gedächtnis. Worte fehlen, Namen werden nicht mehr erinnert. Missionen auf dem Weg von einem zum anderen Zimmer vergessen. Viele Unterhaltungen kommen irgendwann an diesen Punkt: Wie heißt der Film nochmal, in dem dieser Typ mitspielt, der mit dem Bart, der auch in dem anderen Film mit dieser Schauspielerin …

Ich versuche, nicht der Versuchung von Google, IMDB, Spotify oder YouTube zu erliegen. Irgendwo in dieser neuroplastischen Struktur des einsamen oder gemeinsamen Reminiszierens muss der Titel oder Name, das Wort oder Ereignis doch zu finden sein. Wir versuchen uns an Dinge zu erinnern, an die wir uns vor zwanzig Minuten schon nicht erinnern konnten und kommen nicht mal mehr auf das übergeordnete Thema.

Ich würde mir große Sorgen machen, wenn es nicht vielen meiner gleichaltrigen Freund:innen ähnlich ergehen würde. Was wäre ich ohne meine Erinnerungen? Demenz scheint der größte Horror des Alterungsprozesses zu sein: der Verlust der Identität, der Verfall der Persönlichkeit, während der Körper weiterlebt und zur Bürde, zum Witz oder zu einer Warnung für andere wird. Die Erzählungen über Demente im weiteren Umfeld oder zwei Generationen vor uns, die früher noch so lustig und unbedarft daherkamen, klingen gruseliger, wenn sie das ganz nahe Umfeld betreffen. Wenn aus Eltern oder Bekannten auf einmal „andere“ werden. Und die allergrößte Furcht dahinter: Was, wenn es mich erwischt?

Immer wieder mache ich mir Sorgen, dass mein Gedächtnis im selben Tempo wie der Rest meines Körpers altert. Aber dann fällt mir ein: Je mehr ich vergesse, desto besser erinnere ich mich. Erinnern ist ein kreativer Prozess, bei dem aktuelle Emotionen frühere Erinnerungsfragmente zu neuen Gedächtnisteppichen zusammenweben. Und ähnlich wie bei der Wahrnehmung an sich, bei der nicht alle potenziellen Signale unser Bewusstsein überschütten, sondern uns nur ein kleiner Teil davon bewusst wird, geben die vergessenen und verdrängten Emotionen und Bilder den erinnerten mehr Raum. Das Gedächtnis priorisiert also.

Diese Priorisierung schien früher nicht so wichtig zu sein. Als ich noch jung war und mein Gehirn auf Hochtouren lief, hatte ich immer zu viele Ideen und zu wenig Fokus. Ich verlor mich gerne in Details und Umwegen. Ich steckte viel zu viel Energie in viel zu viele Projekte, selbst die nebensächlichsten, vor allem die nebensächlichsten. Sei es aus Unsicherheit, Perfektionismus oder Obsession, sei es, weil ich mich nicht mit den wirklich wichtigen Themen beschäftigen wollte, mein Gedächtnis war ständig überfordert. 

Heute kuratiert meine Vergesslichkeit den aktuellen Stand meines Wissens. Das, was wichtig war und ist, bleibt. Das, was nicht so wichtig war oder ist, verschwindet. Wenn meine Energie weniger und mein Gedächtnis schlechter werden, muss mein Fokus stärker sein.

Fällt mir also in Zukunft mal wieder nicht der Name des bärtigen Schauspielers ein, der mit dieser anderen Schauspielerin in diesem Science-Fiction-Film mitspielt, der auf dem Buch basiert, auf dessen Titel ich nicht mehr komme, geht diese Verkettung von Vergesslichkeiten los und legt sich eng um meinen Hals, werde ich mich erinnern (ha!), loszulassen.

Ich möchte nicht erwürgt werden von diesen grüblerischen Erinnerungsversuchen, sondern leichtfüßig weiterhüpfen, auf zum nächsten Thema, das wahrscheinlich auch gleich wieder vergessen ist, außer es bleibt aus irgendwelchen unkontrollierbaren Gründen hängen.

Und natürlich könnte ich auch versuchen, weniger Content in mich hineinzusaugen, Geräte, Bücher und Magazine wegzulegen, weniger Unterhaltungen zu führen, weniger Input, weniger Reize, weniger Ablenkung auf mich prasseln zu lassen.

Aber ehrlich, so vernünftig bin ich nicht. Wenn ich versuche, effizienter mit meinem Gedächtnis umzugehen, so generell, habe ich diesen Plan ein paar Minuten später wieder vergessen und greife nach dem Magazin beim Essen, dem Podcast beim Spazierengehen, dem Handy beim U-Bahnfahren, mache Smalltalk im Aufzug und im Supermarkt, chatte, quatsche, höre und schaue, bis das Gehirn brennt.

Kurz vor dem Einschlafen läuft dieser ganze Input in einer psychedelischen Sauce, in einem wild gemischten Hack aus Bildern und Geräuschen aus mir heraus, während sich mein Gedächtnis (hoffentlich) erholt. Und manchmal fällt mir in diesen paar Sekunden plötzlich der Name des Schauspielers ein und ich frohlocke. Yeah! Es funktioniert noch! Ganz ohne Wikipedia!

Das Gedächtnis wächst nicht unbedingt an seinen Herausforderungen. Wahrscheinlich wächst es kaum noch. Aber Neuroplastizität klingt besser als Demenz.

Hat vielleicht ein besseres Gedächtnis als ich: die Krähe.

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