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Energieerhaltungssatz

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Irgendwann kommt sie, die Veränderung. Ich beobachte sie immer wieder: In einem Sommer hüpfen und rennen sie noch, im nächsten Frühling bewegen sie sich nur noch gemessenen Schrittes, meistens mit ungewohnt langen Beinen und Armen in Klamotten, die jetzt „etwas ausdrücken“.

Ich stelle mir vor, dass die Gehirn- und Körperentwicklung in der Pubertät so viel Energie benötigt, dass kaum noch Kraft da ist für körperliche Bewegung. Oder dass das Bewusstsein vom Selbst (im Gegensatz zum Selbstbewusstsein) so stark zunimmt, dass man ständig von sich selbst verunsichert ist und die Energie dafür verballert. Oder dass Rennen und Hüpfen mit den neuen Körpern vielleicht nicht mehr so viel Spaß macht, weil sie sich anders anfühlen und/oder nicht so aussehen, wie sie aussehen sollen. Und die Energie dann in so Zeug wie TikTok, Discord und andere Sachen, die ich nur vom Hörensagen kenne, hineinfließt.

Ich frage mich, wann bei mir der Drang zur Bewegung weniger wurde. Wann habe ich aufgehört zu rennen und zu hüpfen?

Ich kenne das genaue Datum: Es war der 21. Juli 2012. Ich war damals scheinbar immer noch so vorpubertär, dass ich nicht aufhören konnte, auf einem Trampolin zu springen. Trotz mehrfacher Aufforderung meines Gefährten, endlich damit aufzuhören.

Und er hatte wie so oft Recht: Mein unterentwickelter präfrontaler Cortex (PFC) wollte weiterhüpfen, aber mein alternder Körper verlor die Balance, stürzte vom Trampolin und zertrümmerte sich den Fuß.

Das war’s dann mit Rennen und Hüpfen. Oder wie der Arzt im Krankenhaus zu mir meinte: „You won’t be dancing tonight, young lady“.

Nicht in dieser Nacht, nicht drei Monate später. Als ich den Fuß wieder belasten durfte, war Tanzen (oder Rennen und Hüpfen) noch Zukunftsmusik. Ich war guter Dinge und stapfte erst langsam, dann immer schneller los, mit dünnen Beinen und einem etwas nachgereiften PFC.

Nicht wirklich ausgereift war mein Umgang mit Verhütungsmitteln. Als ich endlich drei Monate darauf mit Rennen und Hüpfen loslegen wollte, schmerzten die Brüste und die so genannten Mutterbänder. Kurz nach der Geburt dann ein erneuter Versuch des Rennens und Hüpfens, mit dem Resultat, dass ich eineinhalb Jahre Bandscheibenspaß hatte.

Nach viel Physiotherapie, leichten Opioiden und stundenlangem Kinderwagengeschiebe hat sich irgendwann der präfrontale Cortex so weit verdichtet, dass ich auf den Crosstrainer ausweichen konnte. Leider hatte inzwischen die Perimenopause meinen Körper in eine umgekehrte Pubertät katapultiert, so dass er sich auf einmal ähnlich strange anfühlte wie mit dreizehn.

Heute passiert Rennen und Hüpfen nur noch kurzzeitig und zielgerichtet, z. B. wenn ein Verkehrsmittel droht, wegzufahren. Und endet gerne mal in slapstickartigem Hinfallen wie neulich am Frankfurter Bahnhof (Nasenbluten) oder am Eingang zum Hades (Handgelenk angebrochen). Rennen und Hüpfen ist stundenlangem schnellem Gehen gewichen, mit Podcast im Ohr und Schrittrekorden auf dem Telefon.

Mag sich auch mein aktuelles Tempo inzwischen meinem Alter angepasst zu haben, hat sich mein Hang zum Rennen und Hüpfen weitervererbt. Ich bezweifle, dass sich mein Nachkomme mit Anbruch des Stimmbruchs körperlich so ruhig wie seine Peers verhalten wird. Rennen und Hüpfen sind so sehr Teil unseres Alltags, genauso wie ständiges Sprechen, Schreien, Abzappeln oder Dinge Herumschmeißen, dass ich mir ein Leben ohne gar nicht vorstellen kann.

Die Energie fließt. Sie rennt und hüpft und läuft und lacht und flucht und träumt. Und wenn ein Trampolin und körperlicher Verfall dazwischenkommen, springt sie in ein neues Leben über.

Never Stop Until You Drop

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