Zum Inhalt springen

Dämonenbesuch in Bad Cannstatt

  • von

Als ich 9 war, zog meine Familie nach Stuttgart, genau genommen nach Bad Cannstatt. Der große Stadtteil von Stuttgart überforderte mich. Die Schulen waren riesig und für süddeutsche Verhältnisse ziemlich divers. Der nahe gelegene Cannstatter Wasen, Heimat von Volks- und Frühlingsfest, spülte reichlich Betrunkene in die Nachbarschaft. Ich traf auf meine ersten Exhibitionisten und Obdachlosen. In der Grundschule waren Kinder in meiner Klasse, die schon mitten in der Pubertät steckten. Im Gymnasium kamen in den zwei Jahren, die ich dort war, drei Schüler:innen um. Einer verunglückte auf dem Motorrad, einer nahm sich das Leben, eine wurde vergewaltigt und ermordet.

Bad Cannstatt war älter und gefühlt härter und ranziger als der Rest von Stuttgart. Vor mir siedelten dort schon die Römer und Gudrun Ensslin, die rund dreißig Jahre vorher auf dasselbe Gymnasium wie ich ging (aber nicht wie Hermann Hesse und andere berühmte männliche Schüler auf der Ehrentafel erwähnt wird).

Härter und prekärer für mich war jedoch die familiäre Situation, die damals sehr angespannt war. Ich erinnere mich an nur wenige zusammenhängende Geschichten aus dieser Zeit. Nur das: ein Alptraum über eine Orgie im Wohnzimmer unserer Wohnung, zu dem mich später mein Vater ausfragte; ein Mitglied des Hochadels, das beim Wohnungsausbau mithalf; und die tolle Strategie, die ich gegen meine ständige innere Unruhe entwickelte. Ich joggte in meinem Zimmer, immer im Kreis, bis die Füße wehtaten. Dabei hörte ich die Hits von 1979 bis ’82 und Hard Rock.

Um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, ging ich kürzlich die Straße entlang, in der wir damals lebten. Es war Sommer, es regnete in Strömen und ich hatte keinen Schirm dabei. Also die besten Voraussetzungen für einen trip down memory lane. Diese memory lane führte allerdings in keine mir bekannten Gefilde und ich musste mich mit Google Maps orientieren. Natürlich hatte sich das Viertel in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Aber nichts, weder die älteren Häuser, noch die Tram (hier: Straßenbahn) oder die Fußgängerzone, alles Dinge, die es damals schon gab, ließen Bilder zurückkommen. Ich stolperte durch die Gegend, immer auf der Suche nach der einen Ecke oder dem einen Laden, der mir meine Cannstatter Zeit zurück ins Gedächtnis rufen würde.

Als ich vor dem Haus stand, in dem wir damals für drei Jahre wohnten, wunderte ich mich über die Fassade, den seitlichen Eingang und die Umgebung. Ich muss verwirrt ausgesehen haben, denn ein junger Mann fragte mich, ob er mir helfen könne. Er verschwand schnell wieder, als ich anfing, ihm zu erklären, warum ich hier war. Wenn Oma anfängt, vom Krieg zu erzählen, macht man sich besser aus dem Staub.

Danach stolperte ich weiter, durch eine kleine Grünanlage, einem Ausläufer des Cannstatter Kurparks zu meinem ehemaligen Gymnasium. Und dann kamen sie zurück, die Erinnerungen.

Nicht als Worte oder in Form von Erzählungen. Sondern als zunächst vage Gefühle, die irgendwo im Körper feststeckten und sich erst entluden, als ich mich auf den Wegen von damals bewegte. Die langsam von innen nach außen blubberten, erst hart, dann flüssig wurden. Sehr flüssig. Aber glücklicherweise regnete es und niemand, nicht mal ein schlecht in den Büschen versteckter Mann mit hängenden Augen und schrumpeligem Penis in der Hand ertappte mich bei meinem kleinen Meltdown.

Ich erinnerte plötzlich, wie oft ich von diesem kleinen Park geträumt hatte. Und wie ich mich hier gefühlt hatte. Hilflos, planlos, orientierungslos. Immer auf etwas wartend, das nie kommen würde, zumindest nicht an diesem Ort. Mein Schulranzen war immer schwer, egal, was drin war. Ich steckte fest, war unsicher, ängstlich und ahnte, dass ich hier nicht hingehörte.

In Bad Cannstatt besuchten mich die Dämonen und ich war dankbar darüber. Dankbar, dass ich doch Erinnerungen an diese drei Jahre habe, auch wenn ich nicht wirklich in Worte fassen kann, was damals alles passierte. Dankbar darüber, dass ich heute nicht mehr so gefangen, unsicher oder ängstlich bin. Dass ich damals, ohne irgendetwas über Neurodivergenz, Trauma oder sexuelle Gewalt zu wissen, Strategien entwickelte, um besser klar zu kommen. Ganz ohne Psychotherapeuten, Medikamente oder schlaue Bücher.

Und dass ich inzwischen die Freiheit und das Privileg habe, an einem verregneten Tag in die Vergangenheit zu reisen und heulend in einem Park herumzustehen.

Düsteres Cannstatt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert