Nabelschau, revisited: Eines meiner Kindheitsthemen, die ich bis jetzt nicht ablegen konnte, ist die Angst oder Wut darüber, nicht gesehen zu werden. Und das obwohl ich merke, dass ich eigentlich meistens auffalle, sei es wegen meiner Körpergröße, Lautstärke oder unkoordinierten Bewegungen.
Heute liege ich mit diesem Thema natürlich im Trend, da viele Menschen in meinem Alter und meiner biologischen Entwicklungsphase diese Angst-Wut erleben: die alternde *Frau*, die nicht mehr gesehen wird, weil nicht nur ihre unsichtbaren Eierstöcke schlapp machen, sondern auch ihre sichtbare Körperhaut und die Muskulatur darunter.
Was eine ironische Ambivalenz schafft: Ich spüre die Angst-Wut, gesellschaftlich nicht mehr relevant zu sein, nicht mehr die oberflächlichen, aber auch subtilen Vorteile im Umgang mit bestimmten Menschen (heterosexuellen Männern) zu haben und gleichzeitig eine Erleichterung, dass mir Arschlöcher (heterosexuelle Männer) nicht mehr an den Arsch fassen.
Aber um diese Art von Sichtbarkeit geht es nicht. Es geht darum, nicht gesehen zu werden als das, was ich denke, was ich bin. Was natürlich eine schwachsinnige Annahme ist, denn jede Perspektive ist subjektiv. Und schließlich kann der Blick von anderen auf einen selbst sehr erhellend sein. Oder wie es mein Held Gibby Haynes einst formulierte: „You never know just how you look through other people’s eyes“.
Wo also kommt dieses ewige Thema her?
Die transgenerationale Theorie: Meine Großeltern wurden nicht gesehen. Meine Eltern wurden nicht gesehen. Sie konnten mich nicht sehen. Ich kann mein Kind nicht sehen. Generationenübergreifende Blindheit, die wahrscheinlich Jahrhunderte zurückreicht. So weit, so gähn.
Die psychografische Theorie: Ich bin ein so genannter „Erkenntnistyp“ (auch „Sach-“ oder „Denkertyp“) und leide also solcher an der so genannten „Urkränkung“, in der Kindheit nicht gesehen worden zu sein. Genaugenommen empfinde ich es allerdings als größere Kränkung, als Erkenntnistyp keinen guten Style zu haben, weil ich angeblich zu verkopft bin. Spätestens an dieser Stelle weiß ich: Ich werde nicht gesehen.
Die Henne-oder-Ei-Theorie: Ich fühle mich nicht gesehen, weil ich mich selbst nicht sehe.
Die ADHS-Theorie: Ich bin immer zu abgelenkt, um zu merken, dass ich gesehen werde.
Die esoterische Theorie: Ich werde nur von spirituell besonders begabten Wesen gesehen.
Die Matrix-Theorie: Niemand wird gesehen, weil alle die falsche Pille genommen haben.
Die neuchristliche Theorie: Auch wenn mich niemand sieht – Jesus sieht mich.
Die mittelalterlich christliche Theorie: Auch wenn mich niemand sieht – der Teufel sieht mich (und mein rotes Haar).
Die gnostische Theorie: Auch wenn mich niemand sieht – mein Schatten ist sichtbar.
Die narzisstische Theorie: Seid ihr bescheuert? Hier bin ich!!!
Die psychotische Theorie: Alle sehen mich. Vor allem die in den weißen Lieferwagen.
Die neurotizistische Theorie: Ich bin nicht sehenswert.
Und wie gehe ich damit um?
Der praktische Ansatz: Ich mache das Licht an.
Der soziopathische Ansatz: Ich starre mein Gegenüber so lange an, bis es zurückschaut.
Der (post-)kapitalistische Ansatz: Ich recherchiere hochpreisige Pflegeprodukte und Supplements und bin dann zu geizig, sie zu kaufen.
Der sportliche Ansatz: Ich mache meine Cantienica-Übungen, um 10 Zentimeter größer zu wirken.
Der spießige Ansatz: Ich trage manchmal BHs.
Der verdrängende Ansatz: Ich ziehe mir was enges Schwarzes an, schminke mich und gehe in eine dunkle verrauchte Bar mit lauter Musik.
Der Self-Empowerment-Ansatz: Ich schreibe einen Text darüber und gehe anderen damit auf die Nerven.

Foto von Mac.