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Achtsamkeit und anderer Scheiß in der U8

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Neulich, in der berüchtigten U8 auf dem Weg zum Leopoldplatz, hatte ich dieses merkwürdige Gefühl. Um mich herum die morgendlichen Pendler, Touristen, Junkies und Bettler, die meisten Augen auf Telefone oder den Boden gerichtet, alle in ihrer eigenen Welt. Das Kind und ich dazwischen und natürlich ohne Handy, Vorbildfunktion und so.

Wahrscheinlich, weil meine Augen nicht auf einen Bildschirm gerichtet sind und das Kind neben mir eine halbe Minute lang still ist, erwischt es mich. Ein Ziehen irgendwo zwischen Brust und Bauch. Die Erinnerungen kommen sofort: das erste Mal U-Bahn in Berlin mit 12. Das erste Mal Tube in London mit 14, das erste Mal Subway in New York mit 18. Damals waren die Menschen um mich herum unendlich cool in meinen Augen. Jedes Gesicht spannend, voller Geheimnisse.

In all diesen Situationen fühlte ich mich klein und fremd. Gleichzeitig war ich fasziniert. Das Leben „tobte“ um mich herum (in dem Maße, wie alltägliches Leben im öffentlichen Nahverkehr toben kann), die Menschen versunken in ihren Welten, abgeklärte Großstadtmenschen, auf Wegen und Missionen unterwegs, die sich mir komplett entzogen. Ich schaute von außen hinein und stellte mir vor, wie es ist, wenn man sich mit Plan und Ziel durch eine riesige Stadt bewegt, ohne auf Touristen wie mich zu achten. Wenn man alles Erdenkliche gesehen hat und kaum noch reagiert, außer vielleicht auf die unmittelbare Androhung von Gewalt.

Lange habe ich nicht mehr an diese Pioniererlebnisse gedacht. Bis ich neulich, in der U8 zwischen Wedding und Neukölln, dieses Gefühl verspüre. Auf einmal bin ich wieder klein, fremd, fasziniert, gestrandet in einer unübersichtlichen urbanen Welt. Auf einmal ist U-Bahn fahren nicht mehr nur ein praktisches, mitunter nervtötendes Mittel zum Zweck.

Auf einmal ist der übliche Autopilotmodus abgestellt. Ich durchkreuze nicht mehr zielstrebig die Stadt, um einen Punkt meines Tagesplans abzuhaken, sondern bin kurzzeitig dem Alltag enthoben. In dieser merkwürdigen Konstellation von Menschen, die für ein bis zehn Stationen zusammengepfercht nebeneinandersitzen und die vielen Zeitungsverkäufer, schreienden Kinder und sich gegenseitig ignorieren, abgeschottet mit Kopfhörern und Screens, sehe ich mich selbst von oben, für einen kurzen Augenblick aus der alltäglichen Trance gerissen und in die nächste Trance, die der Erinnerungen, geschubst. 

Der Augenblick, in dem mir bewusst wird, wie mein Geist von einem Fokus in den nächsten wechselt, schüttelt mich raus aus dem üblichen Hirnnebel. Ich sehe mich in jüngeren Versionen, etwas, das mir nur selten gelingt. Ich könnte es „Achtsamkeit“ (igitt) oder „Dankbarkeit“ (igittigitt) nennen. Vielleicht habe ich auch einfach nur „intrusive Gedanken“, „Dissoziationsspaß“ oder verarbeite gerade ein Trauma.

Als der Zug das Gleis wechselt und kurz zurück in die Vergangenheit fährt, bin ich für einen Moment alles los, Termindruck, alltägliche Ärgernisse, Job- und Mutterstress – alles weg und ich bin wieder die kleine Touristin in der großen Stadt, ohne Ziel, ohne Termin, ohne Plan.

Ich fühle mich nicht leicht und beschwingt, das war ich nie, und der Rucksack war schon damals schwer, aber die Zukunft schien noch offen und der öffentliche Nahverkehr voller Verheißungen. Die Augen und Ohren waren auf und sogen alles in sich auf. Der Rhythmus der Gleise, das Flackern des Lichts, der Geruch der Passagiere, ich genoss jede Fahrt.

Und so genieße ich auch für ein paar Sekunden die Fahrt in der angeblich schlimmsten U-Bahn Berlins zur angeblich „schlimmste[n] Crack-Hölle“ Berlins.

Manchmal lohnt es sich, alt zu sein.

Schaukeln statt Crack. Das ist auch der Wedding.

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